Perspektiven mit Bielefelder Ausbildungsreport: Wir lassen keinen Menschen zurück!

Von Felix Wagner

Es ist ein großer Erfolg der SPD im Rat, dass es jetzt einen jährlichen Bielefelder Ausbildungsreport gibt. Bekannt sind solche Bestandsaufnahmen bisher nur von der Gewerkschaftsjugend. Bei uns kommt dem Ausbildungsreport die Funktion zu, eine bessere Datengrundlage zu schaffen – für unsere Politik im Rahmen des Bielefelder Ausbildungspakts.

Deshalb zuerst zum Leitbild unseres Bielefelder Ausbildungspakts. Wir haben es mit vielen Akteur*innen diskutiert und in enger Abstimmung mit den Bielefelder Gewerkschaften entwickelt. Unsere Überzeugung ist: Die international gefeierte duale Ausbildung darf nicht zum Auslaufmodell werden. Sie muss als attraktives Zukunftsmodell gestaltet werden, um wieder allen einen guten beruflichen Einstieg anzubieten. Hier sind Arbeitgeber*innen und die Bundespolitik in der Pflicht. Ein Revival des dualen Systems –betriebliche Ausbildung, parallel Berufsschulbesuche, Qualitätssicherung – bietet Bielefeld ein Win-Win-Win-Szenario.

Erstens geht es um den Gewinn für junge Menschen oder diejenigen, die im späteren Alter noch eine Ausbildung nachholen: Für sie alle bietet die duale Ausbildung einen anerkannten Qualitätsstandard, um einen Beruf zu erlernen und sich anschließend weiterzuentwickeln. Dies gilt zumindest dann, wenn auch die Attraktivität des Ausbildungsbetriebs gegeben ist: durch faire Bedingungen auf Basis von Tarifverträgen und Mitbestimmung, wie es unsere Sozialverfassung vorsieht. Fachlich gesehen werden duale Auszubildende gut vorbereitet für eine Berufswelt, die durch schnellere Veränderungen komplexer ist als in allen früheren Zeiten. Und für die politische Bewertung hat der Soziologe und Sozialdemokrat Heinz Bude in seinem Buch „Bildungspanik“ (2011) hergeleitet, dass es sich anbietet, „nicht den mittleren Schulabschluss, sondern die berufliche Erstausbildung als Bildungsminimum zu definieren.“ Er sieht hierin ein realistisches Gerechtigkeitsinstrument, um keinen Menschen zurückzulassen.

Zweitens geht es um den Gewinn für die Stadt Bielefeld: Sie ist als High Tech-, Wissens- und Qualitätsstandort darauf angewiesen, dass duale Ausbildung der Standard für die Breite ist – und bleibt. Anders lässt sich hohe lokale Wertschöpfung im globalen Wandel nicht absichern.

Drittens geht es um den Gewinn der Betriebe – sogar im engeren Sinn: Ihr wirtschaftlicher Profit wird immer stärker davon abhängen, dass jede interessierte Arbeitskraft qualifiziert und mindestens mittelfristig gebunden wird – am besten durch duale Ausbildung und gute Arbeit. Wo dies nicht geschieht, wird der demografische Wandel den betrieblichen Facharbeiter*innenbedarf Jahr für Jahr verschärfen, was den Erfolg oder sogar die Existenz vieler Unternehmen gefährdet.

Nur duale Ausbildung kann ohne Abi gleichwertige Chancen bieten

Aus dem Bielefelder Ausbildungsreport lassen sich für dieses Leitbild wertvolle Erkenntnisse ableiten. Denn mit Blick auf die Bielefelder Schulabsolvent*innen (2021) zeigt sich, dass 56% im „ersten Durchlauf“ keine Hochschulreife erlangen. Zusammengerechnet verfügt die Mehrheit beim ersten Schulabgang weder über Abi (39%) noch Fachabi (5%), sondern viele mittlere Abschlüsse (38%), Hauptschulabschlüsse (12%) und wenige Abgänge ohne Abschluss (6%) (siehe unten 1. Grafik). Zwar ist ein positiver Trend zu erkennen, dass immer weniger Schüler*innen die Schule ohne Abschluss verlassen, aber von anderen großen Verschiebungen oder einer vermeintlichen „Abiturbesoffenheit“ kann keine Rede sein. Es erwerben nicht „zu viele“ junge Menschen die Hochschulreife und besuchen Hochschulen. Dass sich viele akademisch orientieren, ist sinnvoll. Auch für die Breite der akademischen Berufe gibt es große Fachkräftebedarfe (aber mit häufig schlechteren Arbeitsbedingungen als z.B. für Facharbeiter*innen in der Industrie). So sinnvoll eine duale Ausbildung für Abiturient*innen und konkret z.B. Studienabbrecher*innen auch ist: Die große Zielrichtung für sozialdemokratische Ausbildungspolitik sollte sein, für die Mehrheit derjenigen ohne direktes Hochschulinteresse eine gleichwertige Berufsausbildung zu ermöglichen. Für diese Mehrheit wird der Einstieg mit dualer Ausbildung die größten Potenziale entfalten. Hier liegt es auch an den Betrieben, dies zu erkennen und systematisch zu befolgen, was in der Praxis belohnt wird.

Mit bundesdeutschen Standards von Tarifverträgen, Mitbestimmung und gelebter betrieblicher Weiterbildung bieten sich Entwicklungschancen auf dem Niveau akademischer Bildung. Individueller Aufstieg und gesamtgesellschaftlicher Fortschritt müssen Hand in Hand gehen – das ist der Kern sozialdemokratischer Ausbildungspolitik.

Dass die duale Ausbildung in Bielefeld gerade bei mittleren Schulabschlüssen noch große Potenziale hat, offenbart unser Ausbildungsreport: Nur 20% der Schüler*innen mit Hauptschulabschluss und sogar nur 16% mit Fachoberschulreife („Realschulabschluss“) starten direkt nach der 10. Klasse in eine duale Ausbildung. Aber zusammengerechnet verbleiben 53% in einem weit gedachten „Übergangssystem“ (26% in vollschulischen, nicht gymnasialen Berufsschulgängen, 9% im Übergangssystem der Berufsschule, 9% orientieren sich ohne Bildungsgang, 10% arbeiten direkt oder entziehen sich dem System) (siehe unten 3. Grafik). In diesem „Übergangssystem“ liegen große Win-Win-Win-Potenziale für Bielefeld und die duale Ausbildung. Denn die Übergangsoptionen bieten keine direkt wirksame Arbeitsmarktqualifikation. Mit der Übergangslösung wird es jungen Menschen nicht möglich sein, als anerkannte Facharbeiter*innen durchzustarten und sich beruflich weiterzuqualifizieren. Das ist der Unterschied zur dualen Ausbildung.

Damit wir keinen Menschen zurücklassen: Erkenntnisse umsetzen, harte Fragen klären

Unsere nächsten Schritte in der Ausbildungspolitik werden genau hier ansetzen. Antragsentwürfe sind in der Diskussion. Für die zukünftigen Facharbeiter*innenbedarfe bieten sich tolle Perspektiven – mit mehr und schnelleren Übergängen in die duale Ausbildung. Dies gilt gerade für Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Diversität, die bisher in der dualen Ausbildung in Bielefeld noch unterrepräsentiert sind.

Für die bessere Gestaltung sozialdemokratischer Ausbildungspolitik werden wir den Ausbildungsreport als Analysewerkzeug laufend weiterentwickeln. Unser Leitbild lässt keinen Menschen zurück. Wir sehen, welche Möglichkeiten die duale Ausbildung so vielen Menschen schon gegeben hat. Und deshalb haben wir die Potenziale derjenigen klar auf dem Schirm, die bisher noch keine qualifizierte Erstausbildung absolviert haben. Wir werden anregen, dass die Potenzialanalyse des Ausbildungsreports bei diesen wichtigen Fragen die Komfortzone verlässt, also selbstkritisch wird: Wie steht es um Menschen (gerade unter 25), die sich bisher ohne jede Berufsausbildung durchschlagen, also mit Grundsicherung und/oder prekärer Arbeit, Minijobs und Leiharbeit? Wie setzt sich diese Gruppe zusammen? Mehr noch: Worin bestehen erfolgsversprechende Ansätze, um Menschen durch duale Ausbildung zu qualifizieren, also die Win-Win-Win-Potenziale zu heben? Auf diese harten Fragen müssen wir noch bessere Antworten geben. Aus sozialdemokratischer Überzeugung, dass wir keinen Menschen zurücklassen. Und aus wirtschaftlicher Verantwortung in Zeiten großer Umbrüche: Bielefeld kann es sich nicht mehr leisten, Potenzial links liegen zu lassen.